Im Herbst 2015 gab es im Jungen Museum im Kunstquartier Hagen eine ganz besondere Ausstellung: 85 Fotos aus den Jahren von 1934 bis 1940 aus Algerien, wo damals die junge Französin Germaine Tillion unerschlossene Gebiete und unbekannte Volksstämme besuchte und ihre Eindrücke in Fotos festhielt. 1934!
Lange bevor eine Fotokamera Westentaschenformat hatte, reiste sie mit einer Rolleiflex 6 x 6 und einem 40 Kilo schweren Tonbandgerät via Esel und Pferd mit einer Kollegin nach Algerien, um das Leben der Berber zu erkunden. Anders als Kolonialisten, die bis dahin versuchten, den Einwohnern fremder Länder, ihre Lebensform überzustülpen, wollte sie herausfinden, was das Leben dieser Menschen ausmachte.
Der Lebensweg von Germaine Tillion
Germaine Tillion gehörte zu den ersten Studentinnen des Ende der 20er Jahre von Marcel Maus erstmals eingerichteten Studiengangs für Ethnologie. Bis zu ihrer Begegnung mit dem Wissenschaftler hatte sie lange nach einem Schwerpunkt gesucht, in dem sie Erfüllung fand. Die junge Frau war in einem gutbürgerlichen Haushalt aufgewachsen und hatte immer viele Anregungen genossen. Auch nachdem ihr Vater an der Spanischen Grippe gestorben war und die Verhältnisse nicht mehr so rosig waren, legte ihre Mutter größten Wert auf eine gute Bildung für ihre Töchter. Sie unterstützte Germaine und half ihr auch nach ihrer Rückkehr von den Forschungsreisen in Frankreich, einen Widerstand gegen die Nationalsozialisten aufzubauen.
Fotografin in der NS-Zeit
Für Germaine Tillion gab es keine Menschen erster und zweiter Klasse oder gar lebenswerte oder lebensunwerte Rassen, für sie zählte jeder einzelne Mensch. Als sie aus Algerien in ein Frankreich kam, das sich gerade der NS-Ideologie angeschlossen hatte, verschob sie ihre geplante Doktorarbeit und engagierte sich stattdessen im Widerstand gegen die rechten Herrscher. Zusammen mit ihrer Mutter und Großmutter baute sie ein Netz auf, um abtrünnige Soldaten und andere Verfolgte außer Landes zu schaffen.
Ausgerechnet ein katholischer Priester war es, der ihre Aktivitäten verriet und sie damit zunächst ins französische Gefängnis und später ins KZ Ravensbrück schaffte. Aber auch dort verzagte sie nicht, sondern tat sich mit anderen Häftlingen zusammen und tat das, was sie als Ethnologin immer getan hatte: Sie sammelte Informationen über das Lager und schrieb diese auf. Während ihre Aufzeichnungen über das Leben der Berber bei der Deportation verloren gingen, konnte sie ihre Notizen über das Lager retten und daraus ein Standardwerk über das Frauenlager Ravensbrück schreiben. In Frankreich ist dieses bereits Mitte der 50er Jahre erschienen, in Deutschland erst Ende der 90er. Dennoch war Germaine Tillion bis zu ihrem Tod 2008 mit 100 Jahren nie voller Groll, sondern setzte sich für eine Verbindung zwischen Deutschland und Frankreich ein. Ein Engagement für Europa und Menschlichkeit, für das sie noch zu ihren Lebzeiten als Französin mit dem Großen Bundesverdienstkreuz gewürdigt wurde, und erst vor wenigen Jahren mit einem Platz im Pariser Pantheon, in dem herausragende Persönlichkeiten geehrt werden. © 11.11.2015/11.06.2023 Birgit Ebbert www.vergessene-frauen.de