Wie ich auf die Autorin Agnes-Marie Grisebach aufmerksam wurde, weiß ich nicht mehr. Ich glaube, ich habe bei einem Büchermarkt ihr Buch „Frauen im Korsett“ gekauft und war davon so begeistert, dass ich auch die anderen Bücher lesen wollte. Nun standen sie schon eine ganze Weile hier, weil ich mit meinem neuen Roman beschäftigt war, und dann habe ich mit „Eine Frau Jahrgang 1913“ begonnen gleich alle drei autobiografischen Romane hintereinander weg gelesen. Die Lektüre ist ein Streifzug durch das letzte Jahrhundert unseres Landes. Die Autorin hat das erlebt, was sie beschreibt, in den ersten beiden Büchern noch fiktionalisiert, im dritten Band „Von Anfang zu Anfang“ dann als Autobiographie.
Agnes-Marie Grisebach in Krieg und Nachkriegszeit
Agnes-Marie Grisebach ist am 2. September 1913 geboren – übrigens einen Tag von Herti Kirchner, der Protagonistin meines Romans „Den Traum im Blick“ – sie erlebte in Berlin, Rostock und Ahrenshoop zwei Weltkriege, zwei Nachkriegszeiten und die Teilung Deutschlands. Aufgewachsen in einem großbürgerlichen Umfeld, dessen ganze Dimension ihr erst gegen Lebensende deutlich wurde, fand sie sich im Zweiten Weltkrieg und danach im wahrsten Sinne des Wortes vor den Trümmern ihrer Existenz wieder. Aus ihrer Karriere als Schauspielerin war wegen der Kinder nichts geworden, alliierte Bomben zerstörten die Häuser, die ihre Familie besessen hatte, lediglich das von ihr geliebte Sommerhaus in Ahrenshoop blieb unversehrt. Dort richtete sie sich mit ihren vier Kindern ein, während der Ehemann in den Krieg zog. Doch das Haus war nicht für einen ganzjährigen Aufenthalt gedacht und es war so groß, dass Verwandte meinten, sie könnten sich dort niederlassen und auch die Behörden munter Geflüchtete und Ausgebombte einquartierten. Im ersten Buch „Die Frau Jahrgang 1913“ hat Agnes-Marie Grisebach erzählt, wie das alles managte und es doch immer noch schaffte, ihre vier Töchter zu erziehen und ihnen ein liebevolles Zuhause zu schaffen. Doch dann zeichnete sich ab, dass der neue Staat, in dem ihr Häuschen lag, ihr innerlich Probleme bereitete. Als eine verlockende Stelle an den Eintritt in die SED gekoppelt wurde, beschloss sie, mit ihren Kindern in den Westen zu flüchten, wo der Vater seit Jahren mehr schlecht als recht lebte.
Neuanfang nach Flucht in den Westen
Der Briefroman „Eine Frau im Westen“ beschrieb, wie sie versuchte, sich im vom Krieg versehrten Heidelberg, wo ihr Mann lebte, eine neue Heimat zu schaffen. Es war mir übrigens neu bzw. ich habe mich nie Gedanken darüber gemacht, dass die Menschen in den kaum zerstörten süddeutschen Städten nach dem Zusammenbruch schnell wieder an ihr Leben vor dem Krieg anknüpfen konnten – sie hatte ihre Wohnungen, ihre Arbeitgeber hatten ihre Unternehmen, es waren lediglich die Opfer des Krieges zu beklagen. Das war im Münsterland, wo ich aufgewachsen bin, und im Ruhrgebiet völlig anders. Solche Anregungen zum Nachdenken sind es, die das Werk von Agnes-Marie Grisebach so besonders machen. Sie eröffnet einen Blick auf die Vergangenheit aus der Sicht einer klugen Frau, die zwar ihren Status, ihre Sicherheit und ihre Arbeit mit Kriegsbeginn verloren hat, aber ihren klaren Verstand behielt, mit dem sie die Unterschiede und Veränderungen reflektierte. Nebenbei bemerkt, ist es in diesem Fall angemessen, aus dem Werk auf das Leben der Autorin zu schließen, die selbst schreibt, „dass inzwischen der Romanort Henkhof als Ahrenshoop an der Ostsee enttarnt ist und man die Erika Röder geborene Kernrebe als Agnes-Marie Grisebach erkannt hat“.
Die Autorin war 75 Jahre alt, als ihr erstes Buch 1988 im Quell-Verlag veröffentlicht wurde, sie hatte auf dieses Erscheinungsjahr gedrängt, weil sie dachte, es sei doch – mit der Jahreszahl 1913 im Titel – sicher ein schönes Geschenk für alle, die in diesem Jahr 75 würden. Dass vom Erscheinen im Oktober bis Weihnachten über 40.000 Exemplare verkauft wurden, hat ihrer Idee recht gegeben. In den nächsten fast 20 Jahren schrieb sie die beiden anderen autobiografischen Bücher, gab eine Sammlung vorhandener Kurzgeschichten heraus und verfasste das Buch „Frauen im Korsett“ über ihre Urgroßtante Louise Grisebach und deren Freundin Amalie Hassenpflug, ihrerseits mit der westfälischen Dichterin Annette von Droste-Hülshoff befreundet. Grundlage des Buches bildet der Briefwechsel der beiden Frauen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, der die gesellschaftlichen Zwänge jener Zeit widerspiegelte, die Agnes-Marie Grisebach zeigten, „dass ich Gott danken musste, dass ich nicht in jener Zeit geboren war“. Die Zeit, in der sie lebte, brachte andere Herausforderungen, die darin gipfelten, dass der DDR-Staat, den sie 1951 verlassen hatte, sie als nicht existent betrachtete, woraufhin die Gemeinde – obwohl ihre Familie im Grundbuch eingetragen war – das Haus in Ahrenshoop an einen Parteifunktionär verkaufte. Nach der Wiedervereinigung gewann sie den Kampf um ihre Herzensheimat und lebte dort bis zu ihrem Tod am 6. März 2011, zwar blind und gehbehindert, aber zufrieden, dass sie am Ende ihr Talent zum Schreiben noch ausleben konnte. © April 2024 Dr. Birgit Ebbert www.vergessene-frauen.de www.birgit-ebbert.de
Links zu Agnes-Marie Grisebach
Wikipedia-Eintrag
Interview mit der Autorin im WDR anlässlich des 95. Geburtstags
Die Website zu ihrem Haus in Ahrenshoop existiert leider nicht mehr